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30 Jahre „La Haîne“: So weit, so gut | ABC-Z

W enn in einer Erzählung ein Gewehr erwähnt wird, dann muss es später auch abgefeuert werden. Mathieu Kassovitz, der Regisseur des 1995 erschienenen Films „La Haine“, hält sich an die von Anton Tschechow aufgestellte Regel. Auch in der Realität sind Waffen keine bloße Dekoration.

Wenn ich in der Öffentlichkeit eine Schusswaffe sehe – und das ist ausschließlich am Hosenbund von Polizisten –, wird mir schlecht. Zumindest unbewusst spüren alle dieses Potenzial, das in Waffen schlummert, wenn sie uns umgeben. Die bloße Präsenz einer Waffe macht Menschen und ihre Gedanken aggressiver und feindseliger, erklärt eine Studie von 2018. Wenn sie im Holster eines Polizisten sitzt, kann ich mir höchstens denken: So weit, so gut. Noch ruht sie, noch macht er von dem Gewaltpotenzial keinen Gebrauch. So weit, so gut.

Die Waffe aus „La Haine“, oder „Hass“, wie der Film auf Deutsch heißt, ist eine Smith & Wesson Modell 629 und stammt von einem Polizisten, der sie in der Nacht zuvor bei Ausschreitungen in der Pariser Banlieue verloren hatte. Vinz (Vincent Cassel) findet die Waffe, und schwört seinen Freunden Saïd (Saïd Taghmaoui) und Hubert (Hubert Koundé), ihren Freund Abdel, der bei den Protesten in Polizeigewahrsam komareif geprügelt wurde, zu rächen, sollte er an seinen Verletzungen sterben. Er will einen Polizisten töten. Die Zeit, bis die Waffe Tschechows Prinzip folgen wird, tickt davon. „La Haine“ spielt an einem einzigen Tag.

Bei seiner Erscheinung in den 1990er Jahren war es der erste große Film über die migrantisch geprägte Banlieue und die darin so präsente Polizeigewalt. Der Schwarz-Weiß-Film feiert im Oktober sein 30-jähriges Jubiläum und ist über die Jahre kein bisschen verwässert, bleibt berauschend, scharf und dringend.

So weit, so gut, lautet Huberts Mantra, das er aus einer Art Parabel zieht. Darin stürzt ein Mann von einem 50-stöckigen Hochhaus und redet sich währenddessen gut zu. Immer wieder sagt er: „So weit, so gut. So weit, so gut.“ Doch nicht der Fall zähle, sondern die Landung, findet Hubert. „La Haine“ beschreibt eine fallende Gesellschaft mit immer wiederkehrenden Landungen: ein Kreislauf aus institutionalisierter, meist rassistisch motivierter Gewalt und Vergeltung, die ihre Opfer dafür suchen.

Kassovitz schrieb den Film 1993, nachdem der 17-jährige $(LEhttps://www.lemonde.fr/archives/article/1996/02/16/la-douleur-de-la-famille-de-makome-devant-la-cour-d-assises-de-paris_3706476_1819218.html:Makomé M’Bowolé bei einem Verhör von einem Polizisten durch einen Kopfschuss getötet wurde. M’Bowolé war dabei an einen Heizkörper gekettet. 2023 kündigte Kassovitz an, dass der Film als Musical inszeniert werden soll. Weniger als eine Woche später tötet ein Polizist in Nanterre den 17-jährigen Nahel Merzouk durch einen Schuss aus nächster Nähe. Eine Landung folgt auf die nächste. In Oldenburg erschießt ein Polizist den 21-jährigen Lorenz A. durch drei Schüsse in den Rücken. Wir fallen immer tiefer.

Während der Tag weiter voranschreitet und Vinz, Saïd und Hubert nichts unternehmen, um ihre bevorstehende Landung aufzuhalten, denkt man „So weit, so gut“, nicht optimistisch, sondern ängstlich. Vinz tötet schließlich doch keinen Polizisten. Abgefeuert wird die Smith & Wesson trotzdem – natürlich.

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