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250 Jahre Riesling-Spätlese und ihre Legende | ABC-Z

Wie angespannt Johann Michael Engert im Herbst 1775 gewesen sein mag, lässt sich kaum erahnen. Denn überliefert ist seine Reaktion auf eine drohende Missernte in den Weinbergen nicht. Als der Verwalter von Schloss Johannisberg im Oktober vor 250 Jahren einen Traubenboten nach Fulda entsandte, um vom Fürstbischof die Genehmigung zur Weinlese zu erbitten, rechnete er zweifellos mit einer schnellen Antwort. Doch die blieb aus.

Während die bäuerlichen Winzer rund um den Johannisberg nach einem warmen und feuchten Spätsommer die Lese der Trauben vorantrieben, um die Ernte traditionsgemäß vor dem Gallustag am 16. Oktober abzuschließen, breitete sich in den fürstbischöflichen Weingärten ein Schimmelpilz aus. Er färbte die Beeren grau. Erst als der Traubenbote mit zweiwöchiger Verspätung doch noch im Rheingau eintraf, rückte die Lesemannschaft aus. Vermutlich ohne große Erwartungen an Menge und Güte des Weins.

Doch am 26. Februar 1776 zeigt sich Engert nach den ersten Verkostungen des vergorenen Weins hoffnungsvoll: „Der neue Wein ist meistens noch trüb, und haltet immer noch mit einer gewissen Süßigkeit an; man behauptet und hofft, an selbigem etwas außerordentliches der Güte halber.“ Am 10. April des Jahres notiert er, dass frühere Jahrgänge im Preis fallen, weil die 1775er Weine vom Johannisberg so gut sind. Für den herrschaftlichen Keller hält er fest: „solche Weine habe ich noch nicht in Mund gebracht.“

„Das erste Riesling-Weingut der Welt“

Im übrigen Rheingau wird verhaltener über den Jahrgang geurteilt. In der Rheingauer „Wein- und Geschichtschronik heißt es zum 1775er: „viel und gut. Dieser Wein hatte anfänglich einen guten Preis, je älter er wurde, um so mehr fiel er im Preis. Viele Kaufleute, besonders die Holländer, wollten seinen Namen nicht mehr hören. Der starke Hagelschlag, den wir Ende August hatten, und die nachfolgenden guten Jahren von 1770 an waren die Ursachen des Abschlagens.“

Dem Schlossweingut kam zugute, dass es frühzeitiger und umfassender auf die Rebsorte Riesling gesetzt hatte als die in der Umgebung wirtschaftenden Winzer. Das ist ein Ergebnis der „fuldischen Ära“ auf dem Johannisberg, die von 1716 bis 1803 währen sollte. Damals erwarb der Fuldaer Fürstabt Konstantin von Buttlar das Kloster mit Zustimmung des Mainzer Erzbischof Lothar Franz von Schönborn.

Das ehedem älteste Rheingauer Kloster wechselte den Besitzer. Buttlar ließ baufällige Klostergebäude abreißen und leitete den Bau der Schlossanlage ein. Er erweiterte nicht die Rebfläche, sondern ließ auf dem Quarzitboden rund 300.000 Reben pflanzen, vornehmlich Riesling. Das war ein außergewöhnlicher Schritt für die damalige Zeit. Schloss Johannisberg nennt sich deshalb „das erste Riesling-Weingut der Welt“.

Widerstandsfähige Rebsorte? Riesling

Der heutige Geschäftsführer auf Schloss Johannisberg, Stefan Doktor, sieht in der Rebsortenwahl eine Reaktion auf ein sich damals abkühlendes Klima. Dem Riesling sei am 50. Breitengrad und damit der ehemals nördlichen Grenze für den Anbau von Qualitätswein eine höhere Widerstandsfähigkeit zugetraut worden. Buttlar sei „ein risikofreudiger Unternehmer“ gewesen.

Die Rolle der Traubenboten ist historisch belegt. Nicht nur im Rheingau. Namentlich bekannt sind aber nur wenige der Boten. Auf dem Johannisberg hat der frühere Domänenrat Josef Staab versucht, die Wissenslücken zu schließen. Herausgefunden hat er unter anderem, dass im Archiv für das Jahr 1718 Rechnungen über einen „Botenlohn“ vermerkt sind. Allerdings sind viele Unterlagen der damaligen Zeit verloren gegangen. Gesichert ist, dass noch im Jahr 1803 Johannisberger Traubenproben nach Fulda gebracht wurden, um die Leseerlaubnis der Herrschaft zu erhalten.

Aus dem Jahr 1775 ist aber weder die Identität des säumigen Boten noch der Grund für sein Fernbleiben überliefert. „Wir wissen es nicht“, sagte der Weinhistoriker Oliver Mathias kürzlich bei einer Tagung der Gesellschaft zur Geschichte des Weins an der Hochschule Geisenheim. Das lässt viel Raum für fantasievolle Geschichten.

Späte Lese in Johannisberg wird zum Muster für die Region

Der Rheingauer Künstler Michael Apitz und Patrick Kunkel haben dies 1988 in ihrem ersten Comic über „Karl, den Spätlesereiter“ aufgegriffen. Zum Jubiläum „250 Jahre Spätlese“ ist eine Neuauflage erschienen, in der auch Wissenslücken über den Ritt des Traubenboten geschlossen wurden.

Dem unbekannten Traubenboten hat das Schloss schon 1960 ein Denkmal gesetzt, das ein beliebtes Fotomotiv für Besucher auf dem Johannisberg ist. Am Ortseingang grüßt zudem seit 25 Jahren eine Spätlesereiter-Silhouette alle Johannisberg-Besucher. Und im Fuldaer Schlosshof steht eine schön gestaltete Bronzeskulptur und dokumentiert die Verbindung zwischen Fulda und dem Johannisberg.

„Entdeckt“ wurde die Spätlese gleichwohl nicht in jenem Jahr. Denn dass eine späte Weinlese bisweilen wohltuend auf die Weinqualität wirkt – wenn auch bei reduzierter Erntemenge –, war schon seit vielen Jahren bekannt. Rheingauer Heimathistoriker wie Leo Gros verweisen auf die Tradition der Süßweine in Tokaj und Sauternes. Auch am Steinberg im Rheingau soll es schon vor 1775 das Aha-Erlebnis einer außerordentlichen Weingüte nach Befall der Trauben mit dem Botrytis-Pilz gegeben haben.

Doch wurde aus derartigen Einzelfällen im Weinberg bis 1775 keine Regel, die fortan den Weinbau bestimmt hätte. Auf dem Johannisberg sollte die späte Lese jedoch zur Pflicht werden. Wenige Jahre später fand sie Aufnahme in die amtlichen Empfehlungen für den Rheingauer Weinbau, um die Qualität auf breiter Basis zu heben.

Entwertete Edelfäule und Weine mit “Grünlack“

Weinhistoriker Mathias spricht deshalb von einem „Meilenstein der Weingeschichte“ im Jahr 1775. Die Weinbauern blieben misstrauisch. Ihnen war das Risiko zu groß, durch den Schimmelpilz womöglich die ganze Ernte zu verlieren, wenn die Lese zu spät beginnt. Goethe schreibt dazu treffend im September 1814 bei einem Besuch in Bingen, „die Güte des Weins hängt von der Lage ab, aber auch der spätern Lese. Hierüber liegen die Armen und Reichen beständig im Streite; jene wollen viel, diese guten Wein.“ Ein Zwiespalt, dem sich die Winzer nicht nur im Rheingau bis heute stellen müssen. Das Pokern im Herbst um den Beginn der Weinernte ist unverändert eine Nervenprobe. Vor allem dann, wenn hohe Qualität das Ziel ist, aber dabei die Erntemenge nicht aus den Augen verloren werden darf.

Wie der legendäre 1775er aus heutiger Sicht tatsächlich geschmeckt hat, ist nur zu vermuten. Sicher ist, dass seinerzeit sein besonderer Geschmack dem Schimmelpilz Botrytis cinerea zu verdanken war. Wenn dieser sich bei feuchtwarmem Herbstwetter und Temperaturen von 15 bis 25 Grad auf vollreifen Trauben ausbreitet, perforiert er die Beerenhaut mit der Folge, dass Wasser verdunstet. Das hat eine Konzentration von Zucker und weiteren Geschmacks- und Aromastoffen in den eintrocknenden Beeren zur Konsequenz. Weil der Wein dadurch „besser“ wird, sprechen die Winzer von Edelfäule. Sie machen sich dies zur Erzeugung von edelsüßen Weine bis hin zur Trockenbeerenauslese zunutze.

Ähnlich wie der auf Schloss Vollrads etablierte Cabinet-Wein wurde die Spätlese durch das Weingesetz von 1971 entwertet. Nicht die Lage, sondern der Zuckergehalt bestimmte fortan allein die Güte des Weins. Schloss Johannisberg hatte indes mit seinen Lackfarben eine traditionsreiche Qualitätseinstufung. Hinzu kam nach 1830, dass jeder Verwalter mit seiner Unterschrift auf jeder Flasche für die Qualität des Weines bürgte. Weil Schloss Johannisberg den Prädikatsweingütern angehört und sich deren Regeln unterwirft, gibt es heute im Portfolio keine „trockene“ Spätlese mehr, wohl aber eine süße als „Grünlack“. Dieser Wein sei auch wegen der Tradition „nach wie vor der wichtigste im Portfolio“, sagt Stephan Doktor.

„Renaissance“ der Spätlesen zum 250-Jahr-Jubiläum

Er sieht seit einigen Jahren der Stagnation die Nachfrage nach diesen – alkoholärmeren – Weinen wieder wachsen und eine „Renaissance“ bevorstehen. Gerade als Begleiter zu Speisen aus der asiatischen und der modernen Fusion-Küche seien solche ausdrucksstarken Weine gefragt, sagt Doktor, der die Spätlese deshalb nicht für einen ausgesprochenen Dessertwein hält. Für seine 2019er Spätlese hat das Schlossweingut von Weinkritiker Stuart Pigott 100 Punkte für den perfekten Wein erhalten. Mehr geht nicht.

Zum Jubiläum der Spätlese hat Doktor einen Ausnahmewein kreiert: Eine „Cuvée 100“-Spätlese „Ex Bibliotheca“, also aus der Schatzkammer des Schlosses. Dazu wurden Weine aus den besten Jahrgängen des Schlosses zurück bis zum Jahrgang 1915 zu einer Cuvée zusammengeführt und abgefüllt. Doktor spricht von einer „Multi-Vintage“-Spätlese. Es ist ein Wein, der bei einer ersten Verkostung opulent und konzentriert im Glas daherkommt, aber eine außergewöhnliche Frische und Extravaganz zeigt.

Die Güte solcher Weine haben Grünlack-Verkostungen ausgewählter Jahrgänge bis zurück ins Jahr 1945 bestätigt. Ähnlich beeindruckt muss schon Märchensammler Wilhelm Grimm gewesen sein, als er 1883 das Schloss besuchte. Er verbracht dort einen schönen Nachmittag und schwärmte vom Johannisberger Wein, „der zwar mit Gold bezahlt werden muss, gegen den aber auch aller andere Wein nur eine Art gutartiger Essig ist.“

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