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Leo Neugebauers Weg zu 9000 Punkten | ABC-Z

Die Anforderungen eines Zehnkampfs zu erkennen, seine Faszination daraus abzuleiten und die Leistungen einzuordnen, ähnelt dem Betrachten eines Mosaiks. Die einzelnen Bausteine für sich genommen mögen hübsche Momentaufnahmen darstellen, ergeben aber noch längst kein Gesamtbild.

Leo Neugebauer ist ein Könner darin, aus seinen Darbietungen in zehn Einzeldisziplinen die Vorstellung eines perfekten Athleten zu modellieren. Im vergangenen Jahr steigerte der 24-Jährige den deutschen Rekord auf 8961 Punkte. Er rückte damit auf Rang sechs der „ewigen“ Weltbestenliste vor – und nun wartet die Leichtathletik-Welt darauf, dass er als fünfter Mehrkämpfer überhaupt die Traumgrenze von 9000 Punkten übertrifft.

Götzis wäre ein guter Ort dafür. Die Marktgemeinde in Vorarlberg gilt als Mittelpunkt der Mehrkampfwelt, seit im Jahr 1975 einige Visionäre um den Leichtathletik-Vordenker Konrad Lerch hier ein internationales Meeting ausrichteten. An diesem Wochenende geht es zum 50. Mal über die Bühne – und pünktlich zum Jubiläum ist erstmals auch Leo Neugebauer dabei.

„Ich versuche, immer mein Bestes zu geben“

Am Samstag startete der Olympiazweite von Paris mit 10,66 Sekunden über 100 Meter und 7,91 Metern im Weitsprung in den Wettbewerb. „100 Meter war okay, mit Weitsprung war ich sehr zufrieden“, sagte er anschließend. Platz 4 unter 34 Zehnkämpfern in der Zwischenwertung nach zwei Disziplinen. Und umgerechnet acht Punkte besser als bei seiner persönlichen Bestleistung. Sind 9000 tatsächlich in Aussicht?

Den Druck, den andere auf ihn projizieren, möchte Neugebauer nicht auf sich lasten lassen. „Ich versuche, immer mein Bestes zu geben“, gibt er als Philosophie aus, möchte in jeder einzelnen der zehn Teildisziplinen sein Maximum abrufen. „Es kann sein, dass da mal die 9000 Punkte rauskommen“, sagt er. Aber sein Fokus liege einfach nur darauf, „an mir selbst zu arbeiten, immer ein bisschen besser zu werden.“

Der Strahlemann aus Görlitz, der in Leinfelden-Echterdingen aufwuchs, in Texas lebt und für den VfB Stuttgart antritt, freute sich schon vorher extrem auf die beiden Tage im Mösle-Stadion. „Ich habe schon viel davon gehört und richtig Lust drauf“, sagte Neugebauer am Vorabend des Wettkampfs. Weil er in den USA studierte, passte der Götzis-Termin bislang noch nie in seinen persönlichen Kalender. Das Studium der Wirtschaftswissenschaften hat Neugebauer nun abgeschlossen, prompt stand er in den Startlöchern.

Bei perfekten äußeren Bedingungen, 27 Grad und strahlendem Sonnenschein, sorgten 13.000 Zuschauer im dicht besetzten Rund für eine bezaubernde Atmosphäre, die die Athleten zu Spitzenleistungen animierte. Neugebauer musste sich selbst ein bisschen bremsen, damit er die Atmosphäre zum Anfassen nicht allzu sehr genießt, sondern fokussiert bei seinem Sport bleibt. Die freiwillige Selbstkontrolle beinhaltete: keine Interviews zwischen den Wettbewerben, keine Selfies mit dem Publikum nach einzelnen Versuchen. Fröhliches Lachen, Strahlen und Winken standen dagegen nicht auf dem Index.

Schon bei der lockeren Athletenpräsentation am Garnmarkt im Zentrum von Götzis am Freitag saugte Neugebauer die Nähe zu den Zuschauern strahlend auf. Dabei musste er sich auf der Bühne einer erstaunlichen Challenge stellen: dem richtigen Zusammensetzen eines Zauberwürfels – schneller, als die Siebenkampf-Kollegin Annik Kälin parallel eine Frage des Moderators beantwortet hatte. Neugebauer ist gut darin, Chaos in Ordnung zu verwandeln. Er schaffte es, den Würfel in rund einer Minute farblich zu sortieren. Die spielerische Anforderung hatte den Hintergrund, dass ein Video bei Instagram kursiert, in dem ein Porträt Neugebauers aus dem Zusammenspiel von 775 Zauberwürfeln entsteht.

„Ich bin so froh, hier zu sein“

Ganz so viele Teilelemente erfordert ein Zehnkampf nicht. Aber er enthält bisweilen widersprüchliche Aussagen. Neugebauers Weite von 15,93 Metern im Kugelstoßen bedeutete die drittbeste Leistung aller Teilnehmer – und dennoch eine leichte Enttäuschung, denn er hatte die 7,26-Kilogramm schwere Kugel auch schon deutlich über 17 Meter gewuchtet. Nach übersprungenen zwei Metern im Hochsprung war das Thema 9000 Punkte dann erledigt. Den 400-Meter-Lauf absolvierte er in 47,84 Sekunden.

Somit geht Neugebauer als Fünfter mit 4543 Punkten aus dem ersten Tag und zeigte sich „bisher sehr zufrieden“. Mit sich, mit der Tatsache, verletzungsfrei geblieben zu sein, und vor allem mit der guten Stimmung im Publikum: „Ich bin so froh, hier zu sein.“

Guter Zwischenstand für Kaul

Der frühere Welt- und Europameister Niklas Kaul zeigte durchweg gute Leistungen und liegt mit 4257 Punkten auf Rang 13. Seine besten Disziplinen folgen traditionell am zweiten Tag. In Führung liegt Ayden Owens-Delerme aus Puerto Rico mit 4652 Punkten vor dem Schweizer Simon Ehammer (4620) und Sander Skotheim aus Norwegen (4611).

Am zweiten Tag warten 110-Meter-Hürdenlauf, Diskuswurf, Stabhochsprung, Speerwurf und 1500-Meter-Lauf auf Neugebauer und seine Mitstreiter. Es wird wieder auf Schnelligkeit und Präzision, Kraft und Ausdauer, Wille und Biss ankommen. Und erst nach weiteren gut acht Stunden Wettkampfspannung wird sicher sein, welches Gesamtbild die vielen Einzelelemente ergeben. Davon unabhängig sagte Neugebauer: „Ich freue mich auf morgen.“

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