100 Tage Schwarz-Rot: Eigentlich sollten wir jetzt etwas spüren, hatte Merz versprochen | ABC-Z

Schon im Sommer sollte eine Veränderung zum Besseren zu spüren sein, hatte Kanzler Merz im Mai angekündigt. Wirklich gelungen ist das nicht. Dafür gibt es fünf Gründe – einer davon ist Merz selbst.
Nach fast 100 Tagen Schwarz-Rot ist die Haben-Seite der Koalition eigentlich ganz gut gefüllt: Noch vor Amtsantritt hat die neue Bundesregierung eine Öffnung der Schuldenbremse für Verteidigungsausgaben im Grundgesetz verankert und ein Sondervermögen eingerichtet, mit dem die marode Infrastruktur des Landes instandgesetzt werden soll.
Sie hat zudem zwei Haushalte verabschiedet, einen für 2025, den eigentlich die Ampel hätte hinkriegen müssen, einen für 2026. Ein “Investitionsbooster”, also Steuersenkungen und verbesserte Abschreibungsmöglichkeiten für Unternehmen, hat den parlamentarischen Prozess bereits komplett durchlaufen – kurz vor der Sommerpause stimmte der Bundestag dem Gesetz zu.
Die Atmosphäre scheint ebenfalls zu stimmen: Trotz des Streits um die geplatzte Wahl der Jura-Professorin Frauke Brosius-Gersdorf zur Verfassungsrichterin arbeitet Schwarz-Rot deutlich ruhiger als die Ampel in ihrem letzten Jahr. Allein in seiner letzten Sitzung am 6. August verabschiedete das Bundeskabinett 23 Gesetzentwürfe. Außenpolitisch macht Bundeskanzler Friedrich Merz eine gute Figur.
Auch die von Dobrindt ausgerufene “Asylwende” kann die Koalition aus ihrer Sicht als Erfolg verbuchen. Die verstärkten Kontrollen und Zurückweisungen an den Grenzen laufen schon jetzt länger, als Skeptiker erwartet hatten.
Doch es gibt ein fettes “Aber”
Allerdings ist fast jeder dieser Punkte mit einem fetten “Aber” verbunden. Die Öffnung der Schuldenbremse und das Sondervermögen waren für die Union und für Merz persönlich ein drastischer Kurswechsel, eigentlich ein Wortbruch. Die Haushalte sind noch längst nicht unter Dach und Fach: Der für 2025 soll im September vom Bundestag beschlossen werden, der zweite danach. Das könnte noch schwierig werden.
Der Investitionsbooster wurde ausgerechnet an dem Tag im Bundesrat verabschiedet, als Unionsfraktionschef Jens Spahn auffiel, dass er doch keine Mehrheit für Brosius-Gersdorf hat – die positive Nachricht wurde überlagert. Die außenpolitischen Erfolge der neuen Bundesregierung sind ebenfalls überschaubar. Jetzt streitet die Union auch noch über Israel. Und die neue Migrationspolitik wird nicht nur von Linken und Grünen kritisiert, sondern auch von weiten Teilen der SPD. Die Umsetzung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) in nationales Recht ist noch immer nicht beschlussfähig. Von der Klimapolitik, deren Dringlichkeit unverändert hoch ist, ganz zu schweigen. Die scheint in der Prioritätenliste der neuen Bundesregierung weit hinten zu stehen.
Unabhängig von konkreten Themen und Politikfeldern sind es mindestens fünf Probleme, die Merz und seiner Koalition das Regieren erschweren.
Problem 1: Die CDU
Ok, nicht die gesamte CDU stellt ein Problem für Merz dar, sondern nur einzelne Abgeordnete. Saskia Ludwig aus Brandenburg zum Beispiel, die den SPD-Fraktionsvorsitzenden Matthias Miersch als “linken Fundamentalisten” bezeichnet und in Ungarn mit AfD-Chefin Alice Weidel an einer Veranstaltung teilnimmt. Solche Leute gab es auch früher schon in der Union. Aber da waren die Mehrheiten im Bundestag noch komfortabler. Ob Merz und Spahn sich auf ihre Fraktion verlassen können, wird sich nach der Sommerpause zeigen. Spätestens beim nächsten Versuch, neue Verfassungsrichter zu wählen.
Problem 2: Die CSU
Hier ist es tatsächlich die Partei als Ganzes, vor allem ihr Parteichef Markus Söder. Schon immer war der CSU ihr Erfolg in Bayern wichtiger als die Arbeit der Bundesregierung in Berlin. Deshalb haben die Christsozialen auch weniger Skrupel, die Berliner Koalition unter Druck zu setzen. Jedenfalls ist auffällig, wie viele ihrer Projekte die CSU durchgesetzt hat.
Als Union und SPD im Koalitionsausschuss darüber stritten, ob die Stromsteuer nicht doch auch für Privathaushalte gesenkt werden könnte, war dafür kein Geld da – wohl aber für Söders Ausweitung der Mütterrente, die sogar noch vorgezogen wurde. “Schweigegeld, damit Söder draußen keinen Stress macht”, schreibt der Journalist Nico Fried im “Stern”.
Problem 3: Die SPD
Gleich alle drei Regierungsparteien stellen ein Problem für Merz dar? Ja, richtig! Auch die SPD ist ein Problem für Friedrich Merz. In der Fraktion sind viele Abgeordnete sauer: Sie haben im Bundestag einer Migrationspolitik zugestimmt, die nicht ihren Vorstellungen entspricht. Eine vergleichbare Disziplin sehen sie bei der Union nicht.
Und über allem hängt weiter die Erinnerung an die “schwarz-blaue Höllenwoche des Kanzlerkandidaten”. So nennt die “Zeit”-Journalistin Mariam Lau die Tage im vergangenen Januar, als die Führung der Unionsfraktion im Bundestag – also Merz – eine gemeinsame Mehrheit mit der AfD anstrebte oder doch zumindest in Kauf nahm.
Problem 4: Die Umstände
Im Mai hatte Merz in seiner ersten Regierungserklärung gesagt: “Ich möchte, dass Sie, liebe Bürgerinnen und Bürger unseres Landes, schon im Sommer spüren: Hier verändert sich langsam etwas zum Besseren; es geht voran. Wenn wir alle – jeder für sich und wir alle gemeinsam – als ein Land daran arbeiten, dann kann das gelingen.”
Knapp drei Monate später muss man sagen: Das ist nicht gelungen, das war auch nicht möglich. Zu viel liegt im Land im Argen, vor allem aber sind die Perspektiven auf viele Probleme zu vielfältig und zu unterschiedlich, um alle zufriedenzustellen.
Es ist einfach zu viel liegengeblieben in den letzten Jahren und Jahrzehnten. Das war schon das Problem der Ampel, die auch daran scheiterte, dass die Veränderungsbereitschaft in Deutschland derzeit nicht sehr ausgeprägt ist. “Wenn alles bleiben soll, wie es ist, muss sich alles ändern”, sagt der Neffe des Fürsten im Roman “Der Leopard” des italienischen Schriftstellers Giuseppe Tomasi di Lampedusa. Irgendwann ist diese Einsicht verloren gegangen. Auch davon profitiert die AfD. Die will zwar alles komplett umkrempeln, und zwar zuvorderst für ihren eigenen Nutzen, tarnt das aber als Zurück in gute alte Zeiten.
Problem 5: Merz selbst
Ein klarer Ausweis der nicht gedrehten Stimmung sind die Umfragewerte des Kanzlers. Merz kommt aus den Tagen von Schröder und Merkel, aber er ist nur ein Scholz-Nachfolger. Soll heißen: Die Zeiten, in denen ein Kanzler oder eine Kanzlerin zumindest zeitweise auf breite Zustimmung stößt, sind vorerst vorbei. Die Probleme sind noch komplexer, das Regieren ist noch schwieriger geworden. Dafür kann Merz zunächst einmal nichts.
Aber zur Wahrheit gehört auch: Er trägt zum Zustand der Koalition bei. Vom Stopp der Waffenlieferungen an Israel erfuhr die CSU aus den Medien. Auch beim Streit um die Stromsteuer und vor der geplatzten Richterwahl im Bundestag lief die Kommunikation in der Koalition nicht rund.
Schon als Kanzlerkandidat hatte er in den Umfragen weniger Zuspruch als die Union insgesamt. Sein Bild bei den Deutschen hat sich seit der Wahl noch verschlechtert: Im aktuellen RTL/ntv-Trendbarometer ist die Zufriedenheit mit der Arbeit des Kanzlers auf einem Tiefstand. Nur 32 Prozent der Deutschen befinden seine Leistung für gut. Eine deutliche Mehrheit von 64 Prozent ist unzufrieden mit Merz. Im Moment ist schwer vorstellbar, dass sich diese Stimmung bald dreht.