100 Jahre Kulturverein Dießen: Vom Bewahrer zum Gestalter – Starnberg | ABC-Z

Seit fast genau 50 Jahren ist man im Hier und Jetzt verankert und der Zukunft zugewandt. Dabei beschränkt sich dieser etwas andere Heimatverein nicht nur darauf, zeitgenössische Literatur, Musik und darstellende Kunst zu präsentieren; sondern er nimmt auch zu kommunal- und umweltpolitischen Themen Stellung.
Ein kurzer Überblick über die Aktivitäten der vergangenen Monate: Gemeinsam mit der Amnesty International Ortsgruppe Ammersee wird zum 80. Jahrestag des Kriegsendes ein Menschenrechts-Spaziergang durch Dießen veranstaltet. Unter dem Titel „Schattensprünge“ finden musikalisch-literarische Veranstaltungen in einer Dießener Privatwohnung statt.
Zwei Themenabende widmen sich Wald und Wetter: Ein Experte des Deutschen Wetterdienstes referiert über Windsysteme und Lokalklima des Ammersees. Zum Wald werden eine Kunstausstellung, ein bebilderter, wissenschaftlicher Vortrag und eine forstpolitische Diskussionsrunde veranstaltet.
Unter den jährlich sechs bis acht Ausstellungen im vereinseigenen Taubenturm finden sich heuer etwa die von Comics inspirierten Werke von Aurélien Reichert und moderne Keramikskulpturen der Japanerin Ayaka Terajima; als Artist in Residence wird im August die ukrainische Multimedia-Künstlerin Julia Beliaeva erwartet.
Bekannt für Arbeiten aus Keramik und Zinn
Schon lange für seine Keramik- und Zinngießerwerkstätten bekannt, zieht Dießen seit dem 19. Jahrhundert Künstler an. Die idyllische Lage am Ammersee dürfte dabei eine Rolle spielen – sowie eine tendenziell liberale und tolerante Geisteshaltung der Einwohner. Im Laufe der letzten 100 Jahre hat sich das Rathaus mit den Werken örtlicher Kunstschaffender gefüllt – vom Simplicissimus-Zeichner Thomas Theodor Heine bis zum Pionier der abstrakten Malerei Fritz Winter.
Barbara König, Literatin der Gruppe 47, und der weltberühmte Komponist Carl Orff lebten und arbeiteten im Ort – wie auch heute noch einige Hochbegabte der Schönen Künste, die nicht nach Prominenz streben. Das hat sich offenbar im Genpool des Heimatvereins niedergeschlagen, der vom kunstinteressierten, aufgeklärt-kritischen Bildungsbürgertum geprägt ist. Übrigens vertreten noch zwei weitere Dießener Vereine die Heimat: der „Arbeitskreis der Heimatforscher des Ammerseegebietes“ und der „Heimat- und Trachtenverein D’Ammertaler“.
„Zweck“ des 1925 gegründeten Heimatvereins aber „ist die Förderung und Pflege von Kultur und Eigenleben des Marktes Diessen am Ammersee“, heißt es programmatisch in der Satzung. Dennoch versteht man sich auch als Bewahrer des örtlichen Natur- und Kulturerbes: Seit mehr als 40 Jahren wird die Auszeichnung „Haus des Jahres“ für gelungene Sanierungen vergeben. Der Erhalt markanter Altbauten wurde dem Verein sozusagen in die Wiege gelegt: Noch im Gründungsjahr erwarb er den Taubenturm am Dießener Kloster. In den zurückliegenden Jahrzehnten konnten Dank des Engagements der Mitglieder auch der Traidtcasten des Klosters und das Blaue Haus an Dießens Hauptverkehrsader vor dem Verfall oder Abriss bewahrt werden.
Die Vereinshistorie lässt eine klare Zäsur Mitte der Siebzigerjahre erkennen. Die Gründung geht auf den Linguisten und Heimatforscher Bruno Schweizer zurück, der einer Dießener Zinngießer-Dynastie entstammt. Er dirigierte den Heimatverein jahrzehntelang auch ohne Vorstandsposten, schwärmte schwülstig von einer Rückbesinnung auf das einfache bäuerliche Leben und für den heimischen Dialekt. Modische und moderne Irrungen wie Fußball, Autos, Kino, politisches Engagement oder berufstätige Frauen verderben das Volk, fand Schweizer.
Von den Nazis wurde er 1934 zum Führer des Heimatgebiets Lech-Isarland ernannt; für die SS-Forschungsgemeinschaft „Ahnenerbe“ reiste er mehrmals nach Island – wo er nach Spuren der alten Germanen suchte und seine Frau fand. Am Ammersee gründete Schweizer die Zeitschrift „Lech-Isar-Land“ und den Arbeitskreis der Heimatforscher. Er schrieb ein Flurnamenbuch und arbeitete an einem Dießener Häuserbuch, bis er 1958 starb.

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Nach vielen Jahren des Dornröschenschlafs brach 1974 die zweite, wesentlich regere Phase des Heimatvereins an, als eine neue Generation ans Ruder kam. Ausgangspunkt war wieder der Taubenturm, dessen Sanierung zur 650-Jahr-Feier des Marktes Dießen anstand. Die Pläne, darin ein Heimatmuseum einzurichten, hatte man nie umgesetzt. Aber seit 1977 finden im stimmungsvollen Ambiente des Turms Wechselausstellung mit Werken zeitgenössischer, am Ammersee arbeitender Künstler statt.
Von 1991 an übernahm der promovierte Kunsthistoriker, Autor und Heimatforscher Thomas Raff den Vorstand. Unter seiner 30 Jahre währenden, behutsamen Leitung wuchs der Verein mit seinen Referaten zum bedeutendsten Förderer und Impulsgeber des künstlerisch-kreativen Lebens am Ammersee.

So fand in der Marktgemeinde ein Kurzfilmfestival statt, für das die Jury des Heimatvereins bis zu 400 Einsendungen sichten musste. Obwohl die Premiere ein Loch von 5000 Euro in die Kasse riss – verheerend für einen Verein, der sich vorwiegend aus jährlichen Mitgliedsbeiträgen von derzeit 15 Euro finanziert – wurde das Festival noch sechsmal wiederholt.
Einzigartig im ländlichen Oberbayern war auch eine vielseitige Veranstaltungsreihe, die der Dießener Dichter und Hörspielautor Sebastian Goy 2004 startete und die erst in der Pandemie abriss. Unter dem Titel „Goys letzte Montage“ kamen Künstler und Karikaturisten, Kabarettisten und Literaten, Musiker, Historiker und Zeitzeugen zu Wort. Die Themen reichten von Kunst- und Literaturgeschichte bis zum „Urban Gardening“, das schon 2014 als politische Aufgabe gesehen wurde.
Oft stammten die Protagonisten aus Dießen, wie der Bildhauer Christian Tobin, der Maler Martin Gensbaur oder die Autoren Claus-Peter Lieckfeld, Katja Huber und Egon Günther. Die Montage-Konzerte umfassten ein Spektrum vom szenischen Liederabend über die Hochzeitskapelle bis zum avantgardistischen Streicherprojekt des Posaunisten Mathias Götz.

Seit vielen Jahren gehört auch ein Theaterreferat zum Heimatverein. Dessen „Virtuelle Companie“ ist freilich eine Bühnentruppe „ohne festen Wohnsitz“, wie es die Leiterin Katalin Fischer ausdrückt. Gerade hat das Ensemble im Landsberger Stadttheater gastiert, in der Vergangenheit bespielte man etwa den Dießener Schacky-Park oder die seit Jahrzehnten leer stehenden Huber-Häuser im Ort – was die Gemeinde freilich nur einmal ermöglichte.
Wie die Companie musste auch Sebastian Goy öfter den Spielort wechseln: Die Montage(n) zogen vom „K7“ ins „Kultcafé“ und dann in den „Maurerhansl“ weiter. Gelegentlich fanden sie dann noch im „Colibri“-Buchladen oder der vormaligen Schreinerei Graf Obdach, wo sich auch die Freie Kunstanstalt traf. Mit dieser Initiative, die den brachliegenden Hallen der ehemaligen Druckerei Huber wieder neues kulturelles Leben einhauchen will, ist der Heimatverein logischerweise personell eng verflochten. Das gilt auch für den Förderkreis Schacky-Park, der seit 2005 in beispielhafter ehrenamtlicher Initiative die historische Dießener Grünanlage herrichtet und bespielt.
Dass der Heimatverein zu umwelt- und gesellschaftspolitischen Themen Stellung bezieht, begann bereits Anfang der Achtzigerjahre mit Veranstaltungen zu „Waldsterben“, „Fisch und Umwelt“ oder „Albtraum Auto“. In der „Ammer-Allianz“ kämpfte man 2009 gegen den Bau eines Kraftwerks im Fluss, auch beim erfolgreichen Bürgerbegehren gegen den Ausbau eines Parkplatzes in Dießen mischten die Mitglieder 2022 mit.



Nach dem krankheitsbedingten Rückzug Raffs – er starb 2022 – wird nun ein neues Kapitel der Vereinshistorie aufgeschlagen. Kaum gebremst von der Pandemie entwickelt man seitdem neue Formate wie „Dettenschwang strahlt“ (ein Ortsteil Dießens). Die Akkordeonistin Annette Rießner, die das Referat Musik leitet, hat inzwischen schon 16 Mal zum „Hauskonzert“ in fremde Wohnzimmer eingeladen, bei ihren „Klangspaziergängen“ sammeln und produzieren die Teilnehmer Sound-Fragmente an verschiedenen Installationen. Mit frischen Ideen ist auch Carina Eickmann als Referentin für Natur und Umwelt gestartet, die etwa zur Entdeckung der „Kleinode in nächster Nähe“ einlädt.
Das überquellende Vereinsarchiv, das sich seit 1925 angesammelt hat, wurde jüngst aufgelöst und an verschiedene Institutionen abgegeben. Ein Teil davon, der inzwischen im Dießener Pfarrmuseum oder bei der Landsberger Denkmalschutzbehörde lagert, wird jetzt zur Jubiläumsausstellung zurückgeholt. Unter dem Titel „10 x 10 – zurück und vor“ sind vom 11. bis 27. Juli im Taubenturm Dokumente, amüsante Geschichten und künstlerische Beiträge zur Historie des Vereins zu sehen.
Am 11. und 12. Juli zeigt die Licht-Künstlerin und Tassilopreis-Trägerin Vanessa Hafenbrädl an der Fassade ein Video-Mapping, das Tauben und die widersprüchliche Haltung der Menschen zu ihnen thematisiert. In der Durchfahrt des Turms installiert die Musikerin Annette Riessner einen Klangschrank, aus dem per QR-Code Audiodateien abgerufen werden können. Damit ist der Grundstein für ein interaktives Klangarchiv gelegt, das stetig erweitert werden soll.

Wie schon vor 100 Jahren begeht der Heimatverein den Geburtstag wieder mit einem großen Seefest. Am Samstag, 12. Juli, werden Riessner und Katalin Fischer von 13 Uhr an die szenisch-musikalische Moderation mit Heiligengeschichten, Moritaten und Sommerfeen übernehmen. Die Besucher sind aufgefordert, ungewöhnliche Gegenstände zur Tonerzeugung mitzubringen, um gemeinsam daraus eine Klangskulptur zu bauen. Nachmittags spielt das bewährte Trio Nautico Ohrwürmer allen Genres.
Das Abendprogramm gestalten die Band der deutsch-kanadischen Singer-Songwriterin Ceci und Feh: Das viel gelobte Profi-Ensemble um die Jazzsängerin Julia Fehenberger und La-Brass-Banda-Drummer Manuel da Coll hat dem Trip Hop der Neunzigerjahre neues Leben eingehaucht. Zum Abschluss treten Oansno auf: Die vier Münchner mischen Reggae, Dreigesang, Balkan-Sound und Techno zu ihrem „Wirtshaus-Punk“, den sie mit Akkordeon, Tuba und originellen Mundarttexten servieren.
Am Anfang stand der Taubenturm
1925: Nachdem Bruno Schweizer bereits ein Jahr zuvor eine Heimatvereinigung im Ort gegründet hat, finden sich auf seine Initiative 14 Mitglieder zur Gründung des „Heimatvereins Diessen und Umgebung“ zusammen. Eine der ersten Beschlüsse lautet, den Taubenturm des Klosters zu kaufen.
1933 gliedern die Nazi-Herrscher den Verein in den „Reichsbund Volkstum und Heimat“ ein. Nachdem der Taubenturm noch acht Jahre lang von Mietern belegt war, tragen die Vereinsmitglieder dort jahrzehntelang Exponate für ein künftiges Heimatmuseum zusammen. Der Plan sollte freilich nie umgesetzt werden, lediglich 1947 und 1951 wird der Turm kurz für kleine, heimatkundliche Ausstellungen geöffnet.
1950 sondert sich der „Arbeitskreis der Heimatforscher des Ammerseegebietes“ vom Heimatverein ab, der dadurch personell und inhaltlich in eine tiefe Krise gestürzt wird. In der Folge finden kaum mehr Aktivitäten statt, in den Sechzigerjahren beschränken sie sich oft auf die vorgeschriebenen Jahreshauptversammlungen.
1974 erwecken jüngere, kulturaffine Neumitglieder den Heimatverein wieder zum Leben. Die Zahl der Mitglieder steigt von 63 auf 95 und bis 1985 sogar auf 220, der Verein wandelt sich vom Bewahrer des historischen Erbes zum Gestalter lebendiger Kultur.
1979 wird erstmals ein Weihnachtsmarkt vor der Klosterkirche organisiert, den ausschließlich Dießener Künstler und Kunsthandwerker bestücken. Die stimmungsvolle Veranstaltung ohne elektrisches Licht hat bis heute ihren Charme bewahrt.
1991 übernimmt der Kunsthistoriker Thomas Raff den Vorstand, ein Amt, das er erst 30 Jahre später krankheitsbedingt aufgeben muss.
2000 wird zum 75-jährigen Bestehen eine erneute Sanierung des Taubenturms beschlossen. Zur Jubiläumsausstellung schicken Künstler aus aller Welt Bildpostkarten, auf denen sie das Motiv des Gebäudes verfremdet haben.
2004 starten mit dem Kurzfilmfestival und „Goys Letzte Montage“ zwei ungewöhnliche Veranstaltungsformate, die über Jahre hinweg viele Besucher anziehen.
2025: Der Verein zählt 340 Mitglieder. Das hundertjährige Bestehen wird mit einer interaktiven Ausstellung und einem großen Fest am See gefeiert.

:Der Klang des Sees
Der Starnberger See hat schon viele berühmte Musiker und Komponisten inspiriert. Die Historikerin Claudia Wagner liefert bei einem Rundgang Anekdoten von Wagner über Schönberg bis zu Elvis, Hans Albers und Hildegard Knef – an Originalschauplätzen und mit den passenden Tönen.