10 Jahre “Wir schaffen das”: Wie es heute mit Flüchtlingen an Schulen läuft – Bayern | ABC-Z

Poing liegt im Speckgürtel Münchens, ein kleiner Ort mit mehreren Neubaugebieten, drumherum Natur. „Poing hat eine aufgeschlossene, diverse Gesellschaft“, sagt Fleischmann. Sie hat die Vielfalt der Gefühle hautnah miterlebt, die überbordende Hilfe. Und den Kipppunkt, die Angst.
Im Mai 2015 wurde sie zur Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV) gewählt, war also von September an überall im Land unterwegs. In der Erinnerung an die Zeit vor zehn Jahren dominieren die Bilder aus dem Herbst, als Tausende am Münchner Hauptbahnhof ankamen und zahllose Gruppen zu Fuß mit Polizeigeleit über niederbayerische Feldwege liefen. Aber schon im Frühjahr 2015 kamen Flüchtlinge in Bayern an, suchten Schutz vor Armut und Grauen in Syrien, Afghanistan oder Irak. Untergebracht wurden sie zunächst oft in Turnhallen wie im Poinger Schulzentrum.
Vorbereitet auf die vielen Menschen waren sie nicht, sagt Fleischmann heute. Aber die Lehrkräfte rafften daheim zusammen, was sie an Stiften, Heften, Blöcken fanden, der Rest wurde gekauft. Kollegen mit Zusatzausbildung Deutsch als Zweitsprache (DaZ) schulten die anderen. „Das ging rasant.“ Allen war klar, ohne Sprache läuft nichts, die Flüchtlingskinder müssen Deutsch lernen.
„Die Eltern haben mir die Bude eingerannt, wollten unbedingt Deutschkurse geben.“ Fleischmann musste den Helferkreis bremsen, „ich wusste gar nicht, wo ich mit der ganzen Hilfe hinsollte“.
Sie war damals überzeugt, „wir schaffen das“. Kaum ausgesprochen, hält Fleischmann inne. Zu aufgeladen ist dieser Satz heute. Kanzlerin Angela Merkel sprach am 31. August 2015 diesen historischen Satz. „Als der sofort in die falsche Ecke gestellt wurde, hatte ich echte Zweifel“, sagt Fleischmann heute, an der Gesellschaft, an der Stimmung. Aber im Frühsommer in Poing glaubte sie noch dran.
:Zehn Jahre Flüchtlingskrise: Ein ikonisches Foto und seine Geschichte
Tausende Menschen ziehen in einem Zug über eine Wiese bei Wegscheid, vorneweg fährt ein Polizeiauto. Ein Treffen mit dem Fotografen und ein Blick von heute.
Bis zu jenem Elternabend. „Eingebrannt“ habe sich der Moment, vor sich die volle Aula mit den sonst so offenen Eltern, neben sich der Landrat. Sie habe versucht, Optimismus zu vermitteln. Aber die Ängste waren da, vor den fremden Männern, den verhüllten Frauen. Die beiden vorne mussten sich den Fragen stellen, auf die die Politiker im Land noch keine Antworten hatten.
„Und dann haben Eltern allen Ernstes gefragt, dürfen die da raus?“ Fleischmann hält inne. Zehn Jahre später wühlt sie der Satz noch immer auf. „Da konnte ich nicht mehr, da musste der Landrat antworten, das sind doch keine Tiere, die man da in der Turnhalle gehalten hat!“
Hundert Kilometer entfernt in Niederbayern war es kaum anders: „Unsere Lehrer waren nullkommanull darauf vorbereitet“, sagt Andreas Fischer, „gerade am Dorf, gerade die Älteren.“ Auf die fremden Kulturen, auf die Mädchen und Buben, die kein Wort Deutsch sprachen. Wenn sie überhaupt eine Schule besucht hatten.
Fischer war 2015 Rektor einer Grund- und Mittelschule in Dingolfing, 90 Prozent Migranten, 40 Nationen. Trotzdem war der Unterschied groß zwischen Facharbeiterkindern aus der Türkei und Russland, deren Väter bei BMW am Band standen, und den Flüchtlingskindern. „Es war viel schwieriger“, sagt Fischer. Selbst für ihn, den DaZler, damals ein Exot, heute noch eine Minderheit an Bayerns Schulen. Sie improvisierten, wie wohl überall im Land.
Wie viele Flüchtlingskinder es waren, wurde nicht erfasst
„Es war ganz wichtig, die erst mal ankommen zu lassen in unserem Kulturkreis“, sagt Fischer. Das wichtigste aber ist und war „die Haltung, offen zu sein, nicht alles sofort einzufordern.“ Haltung, das sagt auch BLLV-Chefin Fleischmann. Kaum im Amt ließ sie – geschockt vom Elternabend und der Wortwahl selbst im bayerischen Landtag – ein Manifest auflegen. Für ein Miteinander, für weniger Aggression, bessere Umgangsformen und bewusste Sprache.
Was Rang und Namen hatte im Land, in Kirche und Politik unterzeichnete. „Aber ich hätte nie gedacht, dass ich das Manifest zehn Jahre später noch so oft in der Hand habe, Migrationspolitik ist das größte Minenfeld“, sagt Fleischmann heute.
Auch wenn die Stimmung irgendwann kippte, sich die Wortwahl verschärfte, die Staatsregierung reagierte. Millionen wurden für die Integration bereitgestellt, Konzepte erstellt, Kinder und Jugendliche unterrichtet, irgendwie. Wie viele es genau waren, kann das Kultusministerium heute nicht sagen. Der Fluchtstatus wird erst seit Kurzem erfasst.
Auf die große Hilfswelle folgte 2015 Ernüchterung, auch an den beruflichen Schulen und in Bayerns Firmen, die sich Lehrlinge erhofft hatten oder wenigstens willige Arbeitskräfte. Zwei Drittel aller Geflüchteten waren zu alt für die Mittelschulen, die meisten unbegleiteten Minderjährigen lernten also an den Berufsschulen Deutsch.
Es sei ein Irrglaube, dass diese jungen Leute zügig fit werden für eine Ausbildung, sagte etwa Jürgen Wunderlich im November 2016. Mehr als ein Jahr arbeiteten die Schulen da schon mit den jungen Migranten. Der Vorsitzende des Verbandes der Lehrer an Beruflichen Schulen (VLB) erklärte beim Besuch seiner Schule, dass es wohl nur 15 Prozent sofort in eine Lehrstelle schafften. Die meisten bräuchten drei, vier Jahre. „Wir dürfen uns nicht der Illusion hingeben, dass ein tolles Modell ausreicht“, sagte Wunderlich seinerzeit.

:Wie Geflüchtete in einem „Anker“-Zentrum leben
Seit Monaten wird in Bamberg über die Zukunft der Unterkunft gestritten. Aber wie sehen eigentlich der Alltag und das Leben der Menschen vor Ort aus?
Über die Jahre wurden es immer weniger Migranten an den Berufsschulen, erst 2022 stieg die Zahl wieder an. Heute lernen 15 000 junge Leute in den Berufsintegrationsklassen Deutsch. Die meisten sind Ukrainer, die nach dem Überfall Russlands ihre Heimat verlassen mussten, gefolgt von Syrern und Afghanen. Ein Viertel aller Berufsschüler hat laut Kultusministerium einen Migrationshintergrund, in den allgemeinbildenden Schulen sind es fast 30 Prozent.
Allerdings ist der von der Kultusministerkonferenz definierte Begriff Migrationshintergrund sehr breit gefasst: Das Mädchen mit österreichischem Pass und Deutsch als Muttersprache fällt genauso darunter wie der gerade erst zugewanderte Bub, der kein Wort Deutsch kennt. Dann wundert es nicht, dass laut Kultusministerium die meisten Schüler mit Migrationshintergrund an den allgemeinbildenden Schulen in Bayern einen deutschen Pass haben. Danach folgen Ukrainer, Syrer und Rumänen.
Heute sind Bayerns Schulen besser aufgestellt als 2015: Die Materialien, die es heute gibt, hätte er damals gerne gehabt, sagt Andreas Fischer, der DaZ-Pionier. Gerade digitale Apps helfen, um in den 840 Deutschklassen an den allgemeinbildenden Schulen Kinder auf unterschiedlichstem Niveau zu fördern.

„Die Struktur ist gut gedacht, die Formate würden sehr gut funktionieren, hätten wir das entsprechende Personal“, sagt auch BLLV-Chefin Fleischmann. Aber zu wenig junge Menschen studierten Deutsch als Zweitsprache und gerade bei den Deutschklassen oder Alphabetisierungskursen sind die Schulen auf externe Partner wie die Volkshochschulen mit ihren Dozenten angewiesen. Lehrer sind diese selten.
Wer gar kein Deutsch kann, besucht zunächst an Grund- und Mittelschulen die „Deutschklassen“, in denen Sprache, Werte und Lebenswelt vermittelt werden. Ziel bleibt das Lernen im ganz normalen Unterricht. An den Mittelschulen, die heute mit 48 Prozent Migrationsschülern den Löwenanteil stemmen, gibt es neben den Deutschklassen auch spezielle Deutschförderangebote.
Um diese gebeutelte Schulart nicht allein zu lassen, verfügte Kultusministerin Anna Stolz (Freie Wähler) vor einem Jahr, dass auch Gymnasien, Real- und Wirtschaftsschulen Deutschklassen einrichten müssen. „Unsere Schulen sind für alle Kinder und Jugendlichen da, die in Bayern leben. Die Herkunft darf dabei keine Rolle spielen“, sagt Stolz. Schulische Integration gehe alle an.
Die Gegenliebe soll nicht überall groß gewesen sein. Ein Problem ist nach wie vor, dass Bayerns Lehrkräfte auf große Heterogenität im Klassenraum nicht vorbereitet sind. Zwar wird dieser Punkt in den Ideen für eine moderne Lehrerausbildung explizit erwähnt. Aber im Jetzt hilft das wenig.
Der Betrieb muss trotzdem laufen, also machen die Schulen weiter. „2022 haben wir die Maschine einfach wieder angeworfen, die Strukturen waren ja da“, sagt zum Beispiel Ruth Bankmann. Die Direktorin der Staatlichen Berufsschule II (BS II) in Bamberg ist zuständig für den Unterricht sämtlicher Flüchtlinge der Stadt. An der BS II sind zusätzlich zur Schulausbildung der Bäcker, Konditoren, Maler, Körperpfleger und Drucker auch alle Berufsintegrationsklassen angesiedelt sowie spezielle Förderkurse für Berufsschüler mit und ohne Migrationshintergrund.
Den „Peak“ erlebt die BS II mit 338 jungen Frauen und Männern in den Integrationsklassen erst 2025, bei insgesamt 1180 Schülern. Problematisch sei das nicht. Ein Viertel, Landesschnitt.
Auch für die Klassen im Bamberger Ankerzentrum ist Bankmann zuständig, weigert sich aber, darüber zu sprechen. „Zu heiß“, sei das Thema. Wurde vor zehn Jahren noch diskutiert, ob in Erstaufnahmeeinrichtungen Deutschunterricht zugelassen wird, ist das heute üblich. Aber das Areal auf dem Gelände der alten US-Kaserne im Osten der Stadt ist zum Zankapfel geworden zwischen Stadt und Freistaat. Im Rathaus pocht man auf die vereinbarte Schließung Ende 2025, doch der Innenminister hält eine Verlängerung mangels alternativem Standort für unvermeidlich. Und die Schulleiterin will sich nicht die Finger verbrennen.
Seit mehr als drei Jahrzehnten ist sie Lehrerin, seit 13 Jahren leitet sie die BS II, hat die Struktur rund um die Integrationsklassen in Bamberg mit aufgebaut. Bankmann ist nach wie vor Optimistin, das merkt man, aber sie beschönigt nichts. Klappt es denn, die Flüchtlinge in die BS II zu integrieren?
Es gibt schon gemeinsame Veranstaltungen, Schulfeste, gemeinsames Kochen. Aber? „Wir können hier nur Anstöße geben, richtige Integration muss in den Betrieben stattfinden, im Fußballverein, im Viertel.“ Schule kann nicht alles leisten.
In der Berufsintegrationsklasse A ist die Basis gelegt, die jungen Leute sind nach zwei bis drei Jahren fertig mit ihrem Deutschunterricht. Sie sprechen alle verständlich, an diesem Morgen – der letzten Stunde vor den Sommerferien – brunchen sie und unterhalten sich über ihre Zukunft. Ideen haben sie alle, Perspektiven haben vor allem die Frauen.

Drei von ihnen beginnen im September eine Lehre, sie wollen Arzthelferinnen werden. „Viele Ärzte in der Stadt suchen händeringend Assistentinnen“, sagt Schulleiterin Bankmann. Eine syrische Schülerin möchte Abitur machen, eine Russin an der Wirtschaftssschule weiterlernen, die mit 16 Jahren Jüngste will Kinderpflegerin werden. Nur zwei von sieben verhüllen ihr Haar, die anderen tragen es offen, sehr lang oder lockig.
Und die Männer? Ein Syrer, 24, hat einen Job bei Brose in Aussicht, einem der größten Arbeitgeber in Bamberg. Die anderen suchen. Die Männer müsse man etwas mehr schieben, sagt Direktorin Bankmann, die Frauen seien zielstrebiger. Und in der Unterzahl. Noch immer reisen viele Männer alleine ein, während Frauen meist mit der Familie in Bayern ankommen.
Junge Männer mit Fluchthintergrund, die Chefin der Schule ist eine Frau. Gab es nie Probleme? Ruth Bankmann winkt ab. „Es war schon so, dass diese Schüler nach den Mädels geschaut haben, aber das machen unsere Jugendlichen auch.“
Die Regeln sind klar an der BS II: Wer respektiert werden möchte, muss Respekt zollen. „Wenn sie mir nicht die Hand geben möchten, weil ich eine Frau bin, dann legen sie die Hand aufs Herz und verbeugen sich vor mir“, sagt Bankmann und lächelt, „das ist für mich in Ordnung, weil damit zollen sie mir auch Respekt.“
Haltung ist auch eine Frage der Flexibilität.
„Unsere Regeln sind keine Verhandlungssache“, ergänzt ihr Stellvertreter Matthias Freitag. Co-Edukation zum Beispiel oder die Gleichberechtigung von Frauen. Wer sich nicht dran hält, spürt Konsequenzen, kurzzeitiger Schulausschluss zum Beispiel. Oder endgültiger.
Apropos, sagt Freitag, an diesem Morgen erst habe er so einen schwierigen Fall getroffen. Der junge Afghane musste die Schule verlassen, zu schwer fielen ihm Disziplin und Lernen. Er ging arbeiten, aber hatte Pech: Der Arbeitgeber kümmerte sich nicht, es gab Stress, der junge Mann verlor Job und Unterkunft. Er schlug sich durch, holte sich ab und zu in der Schule Frühstück. Aber an diesem Morgen berichtete er Vize-Schulleiter Freitag stolz von seinem neuen Job, in der Backstube eines Bamberger Traditionsbäckers. Ruth Bankmann lächelt zufrieden, die kümmern sich dort.