Diego Della Valle im Interview: „Wer mit seinen Händen arbeitet, ist zwanglos“ | ABC-Z

Herr Della Valle, alle Welt redet von der Work-Life-Balance. Wie sieht das Verhältnis zwischen Arbeits- und Privatleben bei ihnen aus?
Nun ja, ich arbeite viel. Aber ich kann Ihnen sagen, ich brauche auch meine Freizeit.
Und die nehmen Sie sich wirklich?
Ich versuche es. Morgen bin ich drei Tage auf meinem Boot.
Schaffen Sie das, sich drei Tage rauszunehmen?
Mal sehen! Heute habe ich das Ganze schon um einen Tag verkürzt. Aber jetzt steht fest: Ich fahre morgen nach dem Mittagessen, ich sage jetzt nichts mehr ab. Es geht nach Kalabrien. Mit ein paar Freunden. Ein bisschen Erholung tut gut, nachdem wir gerade von unserer Asienreise zurückgekehrt sind. Wir waren in Japan, China, Korea, Hongkong, eine ziemliche Tour . . .
Die Zeiten sind anspruchsvoll. Die Luxusbranche steckt in einer Krise.
Manchmal ist es ein Auf und Ab. Aber wir haben eine Erfolgsgeschichte vorzuweisen. Erstens, weil wir viel arbeiten. Zweitens, weil wir lieben, was wir tun. Und drittens, weil wir ein sehr interessantes Produkt herstellen. Hinter allem steckt bei uns eine Geschichte. Das ist etwas anderes als das so beliebte Storytelling. Heutzutage erzählt jeder Geschichten. Aber die sind manchmal falsch. Unsere Geschichte ist wahr. Wenn Sie keine Geschichte haben, sollten Sie damit auch nicht werben. Italiener zu sein und im Luxusgeschäft zu arbeiten, damit fängt es an. Als Schwede wäre es für mich nicht dasselbe, vielleicht eher im Fischgeschäft. Und das Silicon Valley ist gut für die Tech-Branche. Aber Italien ist perfekt für das, was wir tun.
Schauen Sie auf unsere Handwerker, das sind unglaubliche Menschen. Wer mit seinen Händen arbeitet, ist frei. Ich erinnere mich noch gut daran, wie die Schuhmacher in meiner Kindheit zur Arbeit kamen. Sie trugen ihr Werkzeug immer bei sich. Und wenn es Streit gab, das habe ich mehr als einmal erlebt, sind sie einfach weggegangen und haben ihr Werkzeug mitgenommen. Das nenne ich maximale Freiheit. Das ist so, als würde unsereiner das ganze Büro mitnehmen.
Sie sind immer noch ein Familienunternehmen. Wie hat alles angefangen?
Mein Großvater Filippo Della Valle hat vor mehr als 100 Jahren als Schuster begonnen. Mein Vater Dorino und sein Bruder arbeiteten mit meinem Großvater zusammen. Mein Vater hat das Unternehmen immer weiter ausgebaut. Er war einer der ersten Geschäftsleute in unserer Branche, die die Welt bereisten. Ihm war Qualität sehr wichtig, und er liebte tolle Materialien. Er arbeitete schon mit großen amerikanischen Kaufhäusern zusammen, hat also für mich den Weg bereitet.
Vor genau 50 Jahren traten Sie ins Geschäft ein.
Ja, und ich habe gleich einmal versucht, ein ehrgeiziges Projekt voranzutreiben. Vielleicht war es für die damalige Zeit auch zu ehrgeizig: nämlich eine Marke unter meinem Namen zu entwickeln.
Unter Ihrem Namen, Diego Della Valle?
Ja. Vielleicht zehn Jahre lang. Danach haben wir beschlossen, neue Produkte zu entwickeln. Damals war das Leben unter der Woche und am Wochenende ganz unterschiedlich. Den Samstag und Sonntag nutzte man zum Konsumieren, um in die Kirche zu gehen und sich in der Bar mit Freunden zu unterhalten. Wir haben ein bisschen Wochenende in den Alltag geholt, mit urbanen, schicken, sportlichen, praktischen Produkten. Die Menschen wollen frei sein, aber schick. Freiheit ist ein gutes Produkt.
Und das war neu in den Siebzigerjahren?
Ja. Unsere Idee, als wir vor 50 Jahren mit Tod’s begannen: ein Lifestyle-Unternehmen, das mit hochwertigen Luxusprodukten italienischen Lebensstil bietet.
Wie sind Sie auf den Namen J. P. Tod’s gekommen?
Damals hatte ich weder Budget noch Struktur. Heute arbeiten in Werbung, Marketing und Kommunikation Hunderte von Leuten. Damals war ich allein mit einem Grafiker. Wir trafen uns immer am Sonntagmorgen, der Sonntag war unser Strategietag. Wir wollten einen Namen finden, der schön war, leicht zu lesen und leicht auszusprechen, kurz und weltweit verständlich, auch in Japan und Amerika.
Angeblich fanden Sie ihn im Telefonbuch von Boston. Aber Sie waren doch hier in Italien?
Ja, ich war auf dem Land, aber damals bin ich oft in die USA geflogen. Ich habe einen Buchstaben von da genommen, einen von dort . . .
. . . letztlich bleibt es also ein Geheimnis. Aber J. P., wofür steht die Abkürzung? John Paul?
Nein, reine Phantasie. Das J. P. gab Autorität, und es klingt sehr gut. Die Initiale haben wir aber bald weggelassen. Für Sondereditionen im Luxussegment greifen wir auf J. P. zurück.
Ihre bekannteste Erfindung ist der Gommino, der Autofahrerschuh, ein leichter, flacher und weicher Loafer, mit 133 kleinen Gumminoppen.
Mein Vater war ein versierter Techniker, er half mir dabei. Der Gommino war kein einfaches Projekt. Man verarbeitet ihn nicht wie ein Schuhmacher, eher wie ein Handschuhmacher, weil das Leder so weich ist. Der Markt war begeistert. Als wir die Schuhe Ende der Siebziger in unserem Showroom zeigten, bildete sich draußen eine Schlange, das waren wir nicht gewohnt. Das Leder war ein Problem, weil wir nur die besten Materialien verwenden, und die Menge reichte nicht für die Nachfrage. Manche unserer Kunden sind seit einem halben Jahrhundert dabei: Großvater, Vater, Neffe . . . Die Menschen wollen Komfort und Qualität. Der Gommino ist sehr praktisch, man kann ihn zu vielen verschiedenen Anlässen tragen. Es gibt viele Kopien. Aber für einen hochwertigen Gommino sind mehr als 100 Arbeitsschritte nötig. In dem Schuh stecken viele kleine Erfindungen, viele kleine Geheimnisse.
Es wäre einfacher, in Asien zu produzieren.
Was die Qualität angeht, auf keinen Fall. Italien ist weltweit die Nummer eins, mit den Handwerkern, dem Arbeitsklima, der Atmosphäre.

Haben Sie denn genug Nachwuchs im Handwerk?
Bei unserem Ausbildungsprojekt Bottega dei Mestieri machen viele junge Leute mit. Da arbeiten sie mit Menschen zusammen, die bald in Ruhestand gehen; die Alten bringen Erfahrung mit, die Jungen Dynamik, eine gute Mischung. Dabei ist auch das Soziale wichtig: Die Alten haben gute Ratschläge, nicht nur für die Arbeit, manchmal auch fürs Leben. Es ist wie ein Campus, mit Restaurant und allem Drum und Dran. Wenn wir ein hochwertiges Produkt herstellen, müssen wir unseren Leuten auch Qualität bieten.
Sie haben jetzt mehr als 5000 Mitarbeiter. Können Sie nachts überhaupt noch schlafen?
Ich schlafe nicht, damit meine Mitarbeiter gut schlafen. Ich stehe um vier Uhr auf, manchmal sogar noch früher. Ich brauche keinen Schlaf.
Was sind denn die größten Herausforderungen für die Luxusbranche in Italien? Viele Häuser wurden nach Frankreich verkauft, wie Fendi oder Pucci, und nicht allen hat es gutgetan.
Das sehe ich anders. Diese Transaktionen verlaufen meist gut. Ich bin seit mehr als 20 Jahren im Aufsichtsrat von LVMH. Und wenn der Konzern etwas kaufte, war das Ergebnis immer gut.
Die Firma ist dann aber nicht mehr italienisch.
Aber die Produktion ist italienisch! Alles bleibt in Italien. Das ist ein wichtiger Punkt, wenn ein stärkeres Unternehmen ein schwächeres kauft. In den meisten Fällen ist es gut für die Familie, die verkauft, für ihr Geld und für ihre Würde. Ich sehe die finanzielle Unterstützung italienischer Unternehmen positiv.
Also hilft Ihnen bei Tod’s auch die Investmentgesellschaft L Catterton, hinter der LVMH-Chef Bernard Arnault steht?
Ja. Wir respektieren das Unternehmen sehr. Dort kennen sie das Luxusgeschäft und wissen, wir wir unsere Marken vorantreiben. Dafür müssen wir viel investieren. Sie sind bereit, bei uns zu bleiben.
Aber Sie behalten natürlich die Mehrheit.
Ja. Ich habe großen Respekt vor Aktionären, aber ich liebe die Mehrheitsbeteiligung.
Haben Sie selbst schon versucht, mit eigenen Händen an den Schuhen zu arbeiten?
Ich weiß alles darüber, weil ich fünf Jahre lang in der Fabrik gearbeitet habe. Jeden Tag um sechs Uhr habe ich sie aufgemacht, sie stand unter meiner Kontrolle, ich weiß alles. Ich zeige es Ihnen, wenn Sie einmal in die Fabrik kommen!
Ihre Hauptprodukte sind Schuhe, Taschen und Lederaccessoires. Brauchen Sie mehr Mode oder mehr andere Kategorien?
Unser Geschäft ist Lifestyle. Wir lieben Mode, aber sie ist nicht so zentral für uns. Ich bleibe bei Produkten mit Geschichte. Aber eine meiner Marken, Schiaparelli, bietet ikonische Mode.
Wie oft fahren Sie nach Paris, um bei Schiaparelli nach dem Rechten zu sehen?
Ungefähr alle zehn Tage, um nach meinen Marken Schiaparelli und Roger Vivier zu sehen. Meist versuche ich, freitags dorthin zu fahren . . .
. . . um am Samstagmorgen im Roger-Vivier-Geschäft zu schauen, ob etwas verkauft wird?
Sie arbeiten bei Roger Vivier schon lange mit Inès de la Fressange als Markenbotschafterin.
Ja, sie ist wie ein Familienmitglied. Gerade ziehen wir in unsere neue Zentrale an der Rue de l’Université. Sie hat so viele Ideen dafür, sie ruft zwei- oder dreimal pro Woche an.
Und wie sieht es generell mit dem Geschäft der Tod’s-Gruppe aus? 2024 hatten Sie zugelegt. Das wird in diesem Jahr nicht so leicht sein.
Niemand ist derzeit begeistert von den Zahlen. Meine Botschaft an meine Leute: Wir müssen alles im Auge behalten. Und wir müssen bereit sein, wenn das Momentum wieder da ist. Ende des Jahres wird die Stimmung wieder besser sein, besonders in Asien. Aber zur Zeit ist es etwas schwierig. Jeden Tag macht Trump irgendetwas. Um elf Uhr morgens ist man glücklich, und zwei Stunden später ist man es nicht mehr.
Und wie sieht es mit dem deutschen Geschäft aus?
Unser Produkt ist perfekt für die deutschsprachigen Länder mit ihren 100 Millionen Einwohnern. Deutschland habe ich erst vor 30 Jahren entdeckt. Vorher war es meiner Meinung nach ein langweiliges Land. Ein sehr guter Freund, Hubert Burda, war ein phantastischer München-Führer. Ich liebe auch Hamburg, super elegant. Und ich liebe die präzisen Köpfe. Ich bin eine Mischung aus Capri und München.
Die Deutschen wollen ein Produkt verstehen . . .
. . . ja, ich nenne es „handwerkliche Intelligenz“, „artisanal intelligence“, also AI, aber eben nicht „artifical intelligence“. Im Mittelpunkt steht der Mensch. Der andere Teil ist Effizienz, Geschäft, Umsatz, Gewinn. Aber wir dürfen die Menschen nicht vergessen. Die Menschen müssen leben.
Für Italien haben Sie viel getan, als Sie Millionen für das Kolosseum und die Scala gespendet haben.
Was wir mit der Scala machen, ist ein Dankeschön an Mailand. Und da wir unter dem Label “Made in Italy” arbeiten, unterstützen wir das Kolosseum als bekanntestes Monument Italiens. Darauf sind wir sehr stolz. Ich habe das Kolosseum zum ersten Mal gesehen, als ich noch ein Schulkind war. Wir kamen nach einer zehnstündigen Busfahrt in Rom an. Ich schlief, und als ich die Augen öffnete, sah ich dieses riesige, unglaubliche Bauwerk. Ich erinnere mich noch genau daran. Wenn ich jetzt die Stadt verlasse, sehe ich es an der Straße auf dem Weg zum Privatflughafen. Das Kolosseum erstrahlt wieder hell, und ich bin glücklich.
Auch andere Marken renovieren Denkmäler.
Ja. Fendi den Trevi-Brunnen, Bulgari die Spanische Treppe, Renzo Rosso die Rialtobrücke. Wir müssen das tun. Der Tourismus ist in Italien extrem wichtig. Der Kulturminister ist auch ein Geschäftsmann. Wenn die Denkmäler in Ordnung sind, kommen die Leute.





















